Meine erste Freundin

November 2014. Julias Mutter hatte Recht. Als ich mich endlich von den ständigen Gedanken an Julia befreite, gewann ich wieder an Lebensfreude. Auch die Introvertiertheit ließ mit dem Liebeskummer nach. Ich fühlte mich bereit, aufs Neue nach meiner Liebe zu suchen.

Unterwegs zur Uni sah ich mich ständig um, in der Hoffnung, irgendwo eine potentielle Seelenverwandte zu entdecken. Schon der verzaubernde Blick irgendeiner gutaussehenden Passantin brachte mich dazu, sie anzusprechen und zu fragen, ob wir uns kennenlernen könnten. Auf diese Weise ergatterte ich zwar einige Handynummern, doch meistens vergaß ich den neuen Kontakt nach einigen Wochen, weil ich feststellte, dass die Bekanntschaft kein besonderes Interesse an mir aufwies. Es war demotivierend, immer der Einzige zu sein, der sich bemühte; sie anschrieb oder auf einen Spaziergang einlud. Ich war überzeugt, dass sie sich, wenn sie meine Seelenverwandte wäre, mindestens genauso sehr um eine Beziehung zu mir bemühen würde. Also verwarf ich die meisten Kontakte bereits nach kurzer Zeit und suchte weiter.

Nach einem anstrengenden Tag in der Uni und mehreren Körben setzte ich mich eines Tages auf eine Bank in der Stadt und starrte durch die vorbeilaufenden Passanten hindurch in die Unendlichkeit. In Gedanken fragte ich Gott verzweifelt: »Was mache ich falsch? Warum ist es so schwer, meine Liebe zu finden? Warum bist du nicht da, wenn ich dich brauche?«

Nach einiger Zeit realisierte ich, dass ich vergeblich auf eine Antwort wartete. Also stand ich auf und ging mit einem ermüdeten, niemanden beachtenden Blick zum Bahnhof.

Der Zug nach Hause stand schon am Gleis. Er war relativ voll, also ging ich ein Stückchen weiter entlang der Wagons, bis ich einen freien Platz auf einem Vierersitz entdeckte. Vor mir saßen zwei Frauen, beide wahrscheinlich so um die dreißig oder vierzig. Links neben mir saß eine junge Frau, ungefähr in meinem Alter, mit schulterlangem, blondem Haar. Auf ihrem Schoß lag ein kleines Heftchen und in der rechten Hand hielt sie einen kurzen Bleistift.

Während alle Leute um mich herum auf ihre Handys starrten, schaute sie aus dem Fenster. Dann in ihr Heftchen. Dann nochmal aus dem Fenster und dann wieder nach unten. Als der Zug endlich losfuhr, fing sie an, etwas zu zeichnen. Ich senkte ganz unauffällig meinen Blick auf ihr Heftchen und erkannte, wie sie die Perspektive eines Menschen zeichnete, der gerade aus dem Zugfenster blickte. Sie unterschied sich so stark von allen anderen im Zug, dass ich mich unwillkürlich zu ihr hingezogen fühlte. Während ich sie beim Zeichnen beobachtete, stellte ich mir vor, wie ich mit meiner Hand ihre sanft berührte.

Ich wollte sie unbedingt ansprechen, bevor sie aussteigen würde. Aber ich traute mich nicht, weil vor uns so nah zwei andere Menschen saßen. In dieser Situation hatte ich noch nie eine Frau angesprochen. Mir wurde heiß und mein Herz fing an, schneller zu schlagen. Die Zeit drängte, während ich fieberhaft nach den richtigen Worten suchte. Bei jedem Halt des Zugs dachte ich mir nur: »Bitte, steig noch nicht aus, gib mir noch ein bisschen Zeit«. Es lagen nicht mehr viele Stationen vor uns und die Wahrscheinlichkeit, dass sie vor mir ausstieg, wurde immer größer.

»Du kannst echt gut zeichnen!«, überwand ich die Angst schließlich. Wohl gleichzeitig wandten wir uns von der Zeichnung ab und sahen uns zum ersten Mal an. Nach einem kurzen Blick in ihre graublauen Augen, verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem Lächeln.

»Danke«, entgegnete sie freundlich und kritzelte mit ihrem Bleistift weiter.

Mein Herz beruhigte sich ein bisschen.

»Man trifft selten Menschen im Zug, die etwas anderes machen, als aufs Handy zu starren.«, fuhr ich fort, um das Gespräch aufrechtzuerhalten, während ich aus dem Augenwinkel sah, wie eine der Frauen gegenüber, den Kopf hob.

»Ich zeichne öfter während der Zugfahrt«, erwiderte sie, »Ich liebe Kunst! Und was magst du so?«

»Ich mag Physik«, antwortete ich etwas zögerlich. Das Gespräch kam endlich in Fahrt. Als ich sie schließlich fragte, ob wir in Kontakt bleiben könnten und um ihre Handynummer bat, antwortete sie mir, dass sie ihr Handy nicht dabeihatte und die Nummer nicht auswendig kannte. Stattdessen riss sie kurz vor dem Aussteigen etwas unordentlich ein Blatt aus ihrem Heftchen heraus und schrieb ihren Namen und ihre E-Mail-Adresse darauf. Dieses Blatt bewahre ich heute noch zwischen den Seiten eines alten Buches von Dale Carnegie auf, das mir Dima vor Jahren geschenkt hatte. So lernte ich die wundersame Janina kennen.

Am selben Tag am Abend fuhr ich mit dem gleichen Zug, in dem wir uns kennengelernt hatten, zu ihr in die benachbarte kleine Stadt. Wir hatten uns per E-Mail verabredet. Nach dem Aussteigen wartete ich einige Minuten auf sie. Für kurze Zeit dachte ich, dass sie gar nicht kommen würde. Aber sie kam. Wir machten einen nächtlichen Spaziergang durch die Stadt, der an einer Bank am Kanal endete. Während wir dort saßen, löcherten wir uns gegenseitig mit den verschiedensten Fragen. Im Laufe des Gesprächs sank meine Hemmung, während Väterchen Frost uns mit seiner Kälte dazu zwang, näher zusammenzurücken. Janina legte sogar ihre Beine über meine und ich legte meine Hand um ihre Schultern. Normalerweise wäre ich in der Kälte längst erfroren, doch Janinas Gegenwart und die damit einhergehende Aufregung hielten mich am Leben.

Als es schließlich Zeit war, mit den letzten Zug nach Mitternacht nach Hause zu fahren, warteten wir im orangefarbenen Schein einer Laterne, nah beieinander. Unsere Blicke umwanden sich, während Janina sich näher zu mir beugte. So nah, dass ich ihren Atem auf meinem Kinn spüren konnte. Sie küsste mich direkt auf die Lippen, nur kurz. Ein paar Sekunden später küsste sie mich nochmal. Ich küsste sie zurück – diesmal länger. Ihre funkelnden Augen wandten sich keine Sekunde lang von mir. Es fühlte sich so an, als würde sie direkt in meine Seele hineinblicken. Erst der einfahrende Zug unterbrach unsere Küsse.

Im Zug dachte ich darüber nach, wie außergewöhnlich es war, dass Janina die Initiative ergriffen hatte. Zum ersten Mal spürte ich echte Zuneigung einer Frau, in die ich verknallt war.

Am nächsten Tag kam sie mich in Borsum besuchen und blieb über Nacht. Nach einem langen Tag voller Uni und Arbeit fuhren wir zusammen zu mir. Es war bereits neun Uhr abends, als wir ankamen. Sie lernte meine Mutter und meine Halbschwester kennen. Schwester war an diesem Tag nicht da. Wahrscheinlich war sie bei ihrem neuen Freund, Tobias.

Wie es bei meiner Mutter üblich war, kümmerte sie sich vollständig um uns. Sie brachte Obst und Essen in mein Zimmer, wie sie es immer tat, wenn ich neue Bekanntschaften zu Besuch hatte. Nach dem Essen lag Janina erschöpft in meinem Einzelbett und erzählte mir von ihrem anstrengenden Tag im Bücherladen. Ich saß am Bettrand und hielt ihre Hand. Wir unterhielten uns fast drei Stunden lang, bis der Blick auf die Uhr uns dazu brachte, das Gespräch zu beenden.

Es war ruhig in der Wohnung - wahrscheinlich schliefen alle schon. Wir schauten uns tief in die Augen, und ohne zu zögern, kam ich ihr näher und küsste sie auf die Lippen. Anfangs waren ihre Lippen etwas trocken, aber das änderte sich schnell, als ich mit meiner Zunge zuerst ihre Oberlippe und dann die Unterlippe berührte. Die nun befeuchteten Lippen machten das Küssen angenehmer. Während sich unsere Zungenspitzen berührten, öffnete ich ohne hinzusehen mit einer Hand ihren Jeansknopf. Als ich mich dem Reißverschluss zuwandte, unterbrach ich unseren Kuss und betrachtete das mit Blumen verzierte Höschen, das zum Vorschein kam.

[An dieser Stelle kommt deine Fantasie ins Spiel.]

Wir sahen uns die nächsten Wochen beinahe jeden Tag. Jeden Morgen am Hauptbahnhof wartete sie am unteren Ende der Treppe, die vom Gleis zum Bahnhof führte. Jedes Mal, wenn ich die Treppe hinunterging, spürte ich ein Kribbeln im Bauch und ein breites Grinsen entfaltete sich auf meinem Gesicht. Selbst graue Tage gewannen an Farbe, sobald ich sie sah. Unten angekommen, begrüßte sie mich mit einer festen Umarmung und einem liebevollen Kuss, bevor wir uns gemeinsam auf den Weg in den Alltag machten. Ich reiste weiter mit der Straßenbahn zur Uni und sie zu einer Buchhandlung, wo sie zwischenzeitlich arbeitete. Sie schenkte mir nach jeder Begrüßung am Bahnhof so viel Motivation, dass ich sogar in den Vorlesungen ununterbrochen aufpassen konnte.

Schon bald lud sie mich zu sich nach Hause ein. So wie meine Eltern, waren auch ihre Eltern geschieden. Im Gegensatz zu mir, wohnte sie bei ihrem Vater. Er war nett zu mir. Er machte gerne Musik, vor allem auf dem Klavier. Janina zeigte mir ihr ziemlich chaotisches Zimmer. Es war voller Zeichnungen. Sie holte einen großen Block heraus und zeigte mir die letzten Bilder, die sie gezeichnet hatte. Als ich das mit Bleistift gezeichnete Hannoversche Rathaus entdeckte, war ich sprachlos. Ihr Zeichentalent war kaum übertreffbar. Kein Wunder, dass sie im kommenden Jahr im künstlerischen Bereich studieren wollte.

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