2010. Ich konnte meinen Augen nicht trauen, als ich meine Endnoten anschaute. Eine Drei in Biologie und Technik, aber ansonsten nur Zweien. Mein zweiter Versuch, die zehnte Klasse zu belegen, war ein eindeutiger Erfolg. Mit einem tollen Klassenlehrer an meiner Seite schaffte ich – ohne, dass es eigentlich meine Absicht war – den Notendurchschnitt 2.0, was einem erweiterten Realschulabschluss entsprach. Im Grunde genommen war es nicht meine Endnote allein, sondern auch die meiner guten Lehrer. Mein Notendurchschnitt spiegelte die durchschnittliche Qualität der Lehrer wider. Denn letztendlich, wenn ein Lehrer Noten vergibt, bewertet er nicht nur die Schüler, sondern auch seine eigene Arbeit.
Sogar am letzten Schultag zeigte mein Klassenlehrer mir auf, dass ich etwas konnte. Unsere Kunstlehrerin war nämlich krank und wurde durch meinen Klassenlehrer vertreten. Er gab uns die Aufgabe, ein Cover für eine Mappe zu zeichnen, in der dann die Zeugnisse übergeben werden. Wir durften unserer Kreativität freien Lauf lassen. Ich gab mir viel Mühe dabei und zeichnete einen Baum mit dicken Ästen, die in die Höhe hinausragten. Auf den unteren Ästen standen Türen zu niedrigen Klassen. Wenn man den Ästen nach oben folgte, so gelangte man zu den Türen zu höheren Klassen. Die im wahrsten Sinne des Wortes höchste Klasse war die zehnte Klasse, die wir abgeschlossen hatten. Als mein Klassenlehrer an meinem Tisch vorbeiging und das fertige Bild sah, fand er es so gut, dass er es am Ende auswählte. Ich fühlte mich sehr stolz.
Nach der Zeugnisausgabe fuhr mich Mama am Abend mit ihrem blauen Opel Vectra, den sie nach der Scheidung von Joachim gekauft hatte, zum Abschlussball. Meine Mutter freute sich sehr über meine Noten, daher bestand sie darauf, dass ich meinem Klassenlehrer Blumen überbrachte. Nachdem ich dies getan hatte, setzte ich mich ganz nach vorn, nicht weit vom DJ entfernt, wo viele Plätze noch leer waren. Ich schlürfte an meinem Sekt und beobachtete, wie einige Schüler tanzten. Nach und nach bekam ich Lust, mich ihnen anzuschließen und mich ebenfalls zu den geilen Beats zu bewegen. Mittlerweile hatte ich ein paar Gläschen Sekt intus und war fast bereit aufzustehen und auf die Tanzfläche zu springen.
»Komm, Alex«, rief mir Michel, mein Mitschüler, von der Tanzfläche zu. Dann blickte ich kurz ins Publikum und bemerkte die Blicke der Lehrer und Eltern, die alle auf die Tanzfläche gerichtet waren. Ich sah wieder zu Michel und schüttelte den Kopf. Nein, ich sollte mich besser nicht blamieren, dachte ich. Kurz darauf setzte sich mein Schwarm Halbschwester direkt neben mich, obwohl es ein Dutzend andere freie Plätze gab. Ich war irritiert, schließlich hatte sie mich damals bei SchülerVZ zurückgewiesen, als ich ihr geschrieben hatte, dass ich in sie verknallt war. Doch ich kam nicht dazu, mich in Gedanken darüber zu verlieren, denn wenig später stand sie auf und tanzte mit ihrer Freundin auf der Tanzfläche direkt vor mir, während ich weiter den ganzen Abend versuchte, mich ebenfalls zum Tanzen zu überwinden.
Juli 2010. In den Sommerferien reiste mit meinen Schwestern und Mama nach Russland zu unseren Verwandten. Es war schön, mal wieder mit Onkel Sascha am Hof zu arbeiten. Während einer Woche in Kharkovskiy half ich ihm, seinen Opel Vectra zu pimpen. Unter dem Auto befestigten wir eine neonfarbene Beleuchtung und Bumper, sodass das Auto wie tiefergelegt aussah. Am Kofferraum bauten wir einen riesigen Spoiler dran. Meine Güte, war das ein geiles Gefühl, mit Onkel durch das Dorf zu fahren und zu protzen und am Wochenende mit der krassen Karre zum Asowschen Meer zu fahren.
In der nächsten Woche besuchte ich mit Schwester für drei Tage Galja und Gogi und verbrachte dann den Rest der Zeit bei Dima. Es war schön, in Asow meinen Freund Sanja wiederzutreffen, leckere Samsá von Galja zu essen und dann meine Füße von ihr massieren zu lassen. Zum Frühstück wurde ich von Gogi geweckt, der mich mit eiskaltem Weihwasser bespritzte.
»Aaaah, Gogi, es ist kaaaaalt«, schrie ich, als würde er mir einen Dämon austreiben.
»Frühstück ist fertig«, sagte er nur und lachte dabei.
Nach dem Frühstück besuchte ich mit Gogi an einem Tag natürlich auch die Kirche. Diesmal war es jedoch irgendwie anders. Egal, wo ich hinschaute, sah ich auf mich gerichtete, herablassende Blicke der Heiligen, die auf den großen Ikonen an den Kirchenwänden abgebildet waren. Es war ein bedrückendes Gefühl, beobachtet zu werden.
Gogi zündete eine Kerze an.
»Gogi, lass uns wieder gehen, mir ist schlecht.«
»Sündige nicht. Trägst du das Kreuz?«
»Klar«, antwortete ich und holte unter dem T-Shirt das silberne Kreuz hervor, das mir Gogi geschenkt hatte. Nachdem er endlich mit den Kerzen fertig war, verließen wir die Kirche.
Am nächsten Tag holte uns Dima ab und wir verbrachten den Rest der Woche bei ihm. Am letzten Tag war es, wie bei jeder Reise, schwer, sich zu verabschieden. Wer wusste schon, wann wir uns das nächste Mal wiedersehen würden?
2010. Da ich dank meines guten Realschulabschlusses die Möglichkeit hatte, einen noch höheren Schulabschluss zu erreichen, nutzte ich sie kurzerhand und bewarb mich für den elften Jahrgang einer gymnasialen Oberstufe in der Robert-Bosch-Gesamtschule.
In dieser Schule schienen meine Mitschüler viel intelligenter zu sein. Sie konnten sich viel eloquenter ausdrücken als meine damaligen Mitschüler. Das hat mich am Anfang ein bisschen eingeschüchtert. Auch die Fächer, wie Deutsch, Physik, Biologie und Chemie, waren verdammt schwer. Sport dagegen machte mir sehr viel Spaß. Wenn wir Teamsportarten wie Basketball hatten, war ich zwar einer der letzten, der zu einer Mannschaft gewählt wurde, gab aber trotzdem immer mein Bestes und spielte sogar mit den anderen etwas weiter, fast bis zum Ende der großen Pause. Ich war stets erstaunt, warum ich immer nur eine Drei für den Sportunterricht bekam, obwohl ich vollen Einsatz zeigte.
Nach dem Sport ging ich verschwitzt mit meinen Mitschülern direkt zum Chemieunterricht. Die Pause dauerte noch einige Minuten. Ich und einige andere setzten uns im Flur vor der Tür des Klassenzimmers auf den Boden. Klara saß auch da und redete mit einem Typen, der vor ihr stand. Ich saß alleine da, trank aus meiner Wasserflasche und warf dabei unauffällig ab und zu einen Blick auf sie. Ihre gelockten braunen Haare waren nach dem Sport zu einem Zopf zusammengebunden. Während der Typ ihr etwas sagte, schaute sie ihn an und lächelte. Verträumt sah ich zu Boden und stellte mir vor, ich stünde an der Stelle dieses Typen und schaute Klara an, die mich ebenfalls lächelnd ansehen würde. Der Schulgong brachte mich wieder zurück in die Realität.
Der Chemielehrer machte, wie in jeder Stunde, Witze über die schlechten Schüler. Es war unterhaltsam. Ich war zwar auch schlecht, aber über mich machte er zum Glück keine Witze. Es war das einzige Fach, in dem ich mich traute, meine Hand zu heben, um die Fragen des Lehrers zu beantworten. Gebracht hatte es mir aber nicht viel. Am Ende bekam ich trotzdem eine Fünf.
Neben Sport und Chemie fand ich auch Kunst ganz gut – abgesehen von den Bildanalysen, die wir in Klausuren machen mussten. Die Titel meiner Kunstwerke waren besser als die Kunstwerke selbst: Die Hand der Rechtschaffenheit, der Lebensfaden, Auserwählter Gottes auf dem Weg zum Olymp und Stuhl mit intelligenter Seele.
In all den anderen Fächern lief es notentechnisch eher schlecht. Ich hatte einen Haufen Fünfen. Irgendwann hatte ich einfach keine Lust mehr auf Schule. Den einzigen Ausweg sah ich im Abbruch der elften Klasse, die ich mit meiner Einstellung eh nicht geschafft hätte.
Stattdessen wollte ich lieber selbstständig werden. Ich wollte ein Unternehmen gründen, in dem ich Computer reparieren, sauber machen und zusammenbauen würde. Betriebssysteme installieren, langsame Computer optimieren und sogar Software entwickeln.
Nach dem Schulschluss beschäftigte ich mich – anstatt die Hausaufgaben zu machen – damit, was ich tun musste, um ein Unternehmen zu gründen. Abends besuchte ich einen Programmierkurs, bei dem ich die Grundlagen von C++ lernte, um später eigene Software entwickeln zu können. Ich fing schon an, alle notwendigen Informationen für die Gründung zu sammeln und sie in einer Mappe einzuheften, sodass ich nach dem Abbruch der Schule direkt mit meinem Unternehmen loslegen könnte.
Nach einem halben Jahr an der Robert-Bosch-Gesamtschule ging ich am letzten Schultag zum Oberstufenleiter, um ihm die Blumen zu überreichen. Natürlich nicht für ihn, sondern für Klara. Ich traute mich nicht, es selbst zu tun, also musste das jemand anderes für mich erledigen. Am nächsten Tag bedankte sich Klara bei mir über Facebook. Sie sagte mir, dass sie sehr überrascht war, als der Oberstufenleiter in den Deutschunterricht reinplatzte und ihr die Blumen übergab – ohne ihr zu sagen, von wem sie waren. Als sie dann einen kleinen Zettel in den Blumen entdeckte, erfuhr sie überrascht, dass ich ihr Verehrer war. Doch sie machte im Chat auch deutlich, dass sie kein Interesse an mir hatte.
Im Mai 2010 habe ich eine Zahnspange bekommen, weil ich mich nicht wohl fühlte mit meinen schiefen Zähnen. Diese Behandlung wird ganze vier Jahre lang dauern.
Zähne vor der Behandlung mit Zahnspange (27. Mai 2010)
Durch das lange, regungslose Sitzen auf dem Stuhl beim tagelangen Computerspielen habe ich Schmerzen am Gesäß beim Sitzen bekommen. Dazu kam dazu, dass ich nicht mochte wie behaart ich im Vergleich zu meinen Mitschülern an den Beinen war. Mein Po war ebenfalls sehr behaart. Um mein Selbstwertgefühl zu steigern, habe ich mich an den Beinen und am Po kahlrasiert. Das hat zu einem eingewachsenen Haare geführt. Durch das Sitzen, konnte er gar nicht raus, sondern ist nach Innen gewachsen. Es entstand eine Art großer Pickel, der sehr schmerzhaft war. Beim Arzt, während unseres Russlandurlaubs, zu dem mich Dima begleitet hat, wurde festgestellt, dass ich Dekubitus habe und der dringend operiert werden muss, da ich sonst Blutvergiftung bekommen könnte.
In Deutschland wurde ich dann operiert. Es wurde ein großer Stück des Dekubitus ausgeschnitten, sodass dort nun ein tiefes Loch entstand. Beim Anblick in den Spiegel, fiel ich fast ihn Ohnmacht und musste weinen. Mama hat mir in der Dusche geholfen das Loch mit Wasser auszuwaschen, denn es musste regelmäßig gemacht werden. Es war schmerzhaft und ich schämte mich zuerst, dass meine Mutter mich nackt gesehen hat.
Nach einigen Jahren wuchs das Fleisch im Loch und es verschwand. Hinterlassen hat die OP nur eine kleine Schramme.
Zukünftige Learnings aus der Zeit in der Molitoris-Schule: